Onua bewegte sich wie ein Schatten durch die schäbigen Gassen und nahm das Durcheinander der stadteigenen Ausdünstungen in tiefen Atemzügen in sich auf. Besser hat noch kein Ort gerochen, in dem sie seit der Befreiung aus dem Amulett gewesen war. Gerade als sie überlegte, durch welchen finsteren Gang sie sich weiter durch die Stadt bewegen sollte, wehte aus einer dunklen Ecke der Geruch einer frisch geöffneten Bauchhöhle herüber. Dieser vollmundige Duft ließ sie innehalten und seufzen. Ureban Na Xertes gefiel ihr immer besser!
Ihr fleischiger Körper immer weniger. Klein und schwach, kein Vergleich mit ihrer wahren Gestalt. Zum Glück waren ihr ein paar Dämonenkräfte geblieben, die sie gegen schwache und Nicht-Dämonen einsetzen konnte, aber da es hier einige höhere Dämonen gab, blieb ihr nichts anderes übrig, als Katz-und-Maus zu spielen.
Die Eroberung von Timor und Nabur auf der Estlichen Welt waren ein köstlich blutiger Spaß gewesen, hatten ihr aber auch die Aufmerksamkeit des Imperialen Marschalls eingebrockt. Dieser hätte lieber seine rechte Hand Drugnar Gunnarson an ihrer Stelle gesehen und hat sie daher vor die Wahl gestellt, ihm zu helfen oder ein schnelles Ende zu finden. Aus Sorge, wieder in die Leere verbannt zu werden, war sie lieber untergetaucht, um ein paar kursierenden Gerüchten nachzugehen. Sie hoffte darauf, ihre Dämonenkräfte wiederherzustellen, bevor sie sich Samsa stellte.
Leider hatte Onua keinen Zugriff auf die Erinnerungen ihrer Fleischhülle Snibi, wie der Wassergeist sie genannt hatte, dort hätten sich vielleicht einige nützliche Informationen gefunden. So hat es ziemlich lange gedauert, diesen Ort hier zu finden. Aber ihre Zeit als Heerführerin in ›Vertretung‹ hatte sehr dabei geholfen und gestern wurde ihr bei ihrer allnächtlichen Niedere-Wesen-Ausquetschen-Runde zugetragen, das sich einer Sage nach die schwarze Quelle, mit der sich Dämonenkräfte auffüllen lassen, unter dem Palast des Dämonenlords befinde. Und dass es Gerüchte gibt, dass es sich bei dem Herz des Winters auch um so eine Quelle handeln könnte. Was man in Timor gemunkelt hatte, schien zu stimmen. Sie musste irgendwie oder über irgendwen an eine dieser Quellen ran kommen, denn auf vollständige Regeneration zu warten war keine Option!
Mit einer plötzlichen Drehung und der bloßen Faust zerschmetterte sie den Schädel der Gestalt, die sich von hinten genähert hatte, und verteilte ihn auf dem Boden der dunklen Gasse. Einen Vorteil hatte dieser Fleischkörper doch, ständig wurde sie unterschätzt.
Als sie nach dem leblosen Körper griff, bevor er zu Boden sacken konnte, um seine Taschen nach Nützlichem zu durchsuchen, fiel ihr ein Zettel in seiner rechten Hand auf und weitere, die nun verstreut auf dem Boden lagen. Sie nahm das Exemplar aus seiner Hand und überflog es hastig. Zwei namhafte Schädelträger planten eine Reise zum Norpol. Ob sie es auf das Herz des Winters abgesehen hatten? Sollte sie sich der Suche anschließen? Und wenn es nicht das war, was sie dachte? Könnte sie dann vielleicht durch einen von ihnen Zugang zur Quelle unter dem Palast erhalten? Sie musste endlich Nägel mit Köpfen machen und mit diesen Grübeleien aufhören, denn wäre sie aufmerksamer gewesen, hätte sie den Zettelträger auch ohne Einsatz ihrer Dämonenkräfte töten können und sich dadurch nicht geschwächt.
Doch welche Seite wählen? Onua musste nicht lange darüber nachdenken. Sie brauchte Samsas Hilfe, sonst würde sie die schwarze Quelle nie erreichen. Es war Zeit, dem Imperialen Marschall entgegenzutreten, gleich ob mit oder ohne ihre dämonischen Kräfte.
Raus aus den Schatten
Sabine Becker
Berlin, September 2022