Vom Tode der Moral

Vom Tode der Moral

Auf dem Feldherrenhügel

»Komm«, flüsterte Aixa, die junge Ordonanz. Ein vorsichtiger Blick in die Weite des Küchenzeltes, dann ein kecker Blick zu Oszra, gefolgt von einem auffordernden Zupfen am Ärmel. Sie huschte lautlos hinten aus dem Zelt, dort wo es zu den Waschstellen und Aborten ging. Oszra schüttelte demonstrativ zwei Holzteller ab, die er gerade in der Spüle bearbeitet hatte. Er wusste, wenn er jetzt Aixa folgte und der Küchenchef erwischte ihn, dann würde er heute Nacht auf dem Bauch schlafen. Nicht heimlich tun war das Gebot des Moments. Heimlichkeit wurde sofort bemerkt. Noch mal Wasser von den Tellern schütteln, und sie dann wuchtig auf den Seitentisch legen. Und dann eilte der Küchenjunge eiligen Schrittes durch den hinter Zeltausgang, so als würde er den Abort aufsuchen.

Das Küchenzelt hatte seinen Platz oben auf dem Feldherrenhügel gefunden, direkt neben dem Lagerkreis, in dem der General und seine Offiziere die Lage besprachen. Die belagerte Grenzfeste Tiebel lag von hier aus fast tausend Schritte entfernt auf der rechten Seite. Ein gut gewählter Abstand, denn die drehbaren, riesigen Trebuchets der Festung warfen Felsen im besten Falle dreihundert Schritt weit. Die Front des Zeltes zeigte auf den Platz. Diese Front hatte man auf beiden Seiten mit einfachen Zeltwänden verbreitet, um dahinter Vorräte unsichtbar zu lagern. Und dort hatten die Bediensteten ein paar Stühle platziert, um sich auszuruhen und auch mal ein Bier zu trinken. Der Stoff wies einige Sichtschlitze auf, durch die Aixa und Oszra nun spähten.
»Es bewegt sich viel heute«, wisperte Aixa ihm zu, »es wird eng für uns. Aus der Tiefebene nähert sich der Entsatz der Festung. Es heißt, Azza Assalonn führt 8000 schwer bewaffnete Mann von hinten über den Aufgang in die Festung. Der Mann wird der Bluthirsch der Tiefe genannt, das verheißt nichts Gutes. Die werden uns in einem Ausfall hinwegfegen, sage ich dir.«
»Hmm,« grunzte Oszra.
»Und es sind neue Besucher eingetroffen, die mit dem Besten bewirtet werden, was wir noch in den Vorratslagern haben. Mit Blutwein und reichlich Braten, als wäre beides nicht schon seit Tagen knapp.«
»Einer davon mit merkwürdig viel Fell.«
»Ja, ein Werwolf, aufgeplustert bis unter das Dach. Luran heißt er. Und bei ihm ein älterer Mann, genannt Ismael. Der schaut die halbe Zeit fahrig in die Gegend, als wüsste er nicht so recht, wo er ist. Der weiß wohl nicht, was er da soll.«
»Von Ismael habe ich gehört, es gab Gerüchte. Aber das, was ich hörte, passt nicht zu dem, was du erzählst.«
»Gerüchte gibt es viele«, knurrte sie, »ich habe einige über den Werwolf gehört«.
Ein Zischen von weit oben lenkte sie ab. Ein riesiger Feuerball zog über den Himmel, fast so hell wir die Sonne.
»Sie versuchen es wieder.«
»Ja, das ist so befohlen. Jeden Zehnteltag testen.«
Der Glutball zog seine Bahn und machte dabei Geräusche wie Eidechsen in der Bratpfanne. Dann geschah, was immer geschah. Der Ball wurde langsamer, er schrumpfte, um dann schließlich mit einem feuchten Zischen im halb gefüllten Burggraben zu verlöschen.
»Verdammte Neutralmagier«, zischte Aixa, »die Festung sollte schon lange der Horde gehören, und der Weg in die Tiefebene wäre unser. Aber die blockieren jeden magischen Angriff.«
»Die letzten vier Wochen hat sich wenig bewegt. Mal ein Angriff am Nachmittag auf die Tore. Dann so ein halber Ausfall von denen. Nix is‘.«
»Na, du musst mal den Alten hören, da bewegt sich was. Da hat die Horde Erfolge. Da wird viel gemacht, alles sehr wichtig. Aber meist werden nur Bauern im Hinterland gefangen, für den Schlachter und die Kette.«
Oszra schauderte und musste unwillkürlich in Richtung der Festungsmauern schauen. Dreihundert Schritte schafften die riesigen drehbaren Trebuchets auf den seitlichen Türmen. Sie konnten den Zugang zu der Tiefebene nach hinten mit Tod überziehen und nach vorne alles vernichten, was sich dem weit gezogenen Graben näherte. Aber sie konnten nicht den Bereich am Fuße des Hügels erreichen, an dem auch heute der Schlachter stand und Gefangene zerhackte. Er ging methodisch vor, ließ sich einen nach den anderen aus den Käfigen bringen. Er griff ihn dann mit seiner riesigen Hand und warf ihn auf die Schlachtbank. Dann wählte er eines der Messer oder eine der Hacken an seinem Gürtel aus und begann mit der blutigen Arbeit. Langsam und methodisch. Lange Atemzüge später rutschte eine blutige Masse vom Tisch. Zwei Mal am Tag belud man einen Wagen und karrte die Reste zum Graben. Einige Dags sicherten den Weg mit Schilden, gegen Angriffe mit Bögen. Die Wagen luden dort die Toten ab, um die Grabenhaie zu füttern.
Die Kette stand dicht neben der Schlachtbank. Ein zehn Schritte hoher Pfahl, mit einem System aus Winden und Rollen, an dem man Gefangene hochzog. Der erste wurde mit den Handfesseln in einen Haken gehangen, der nächste an dessen Beine gebunden, der dritte am Hals des zweiten und so weiter. Die Schergen würfelten manchmal, wie es in der Kette weiter gehen sollte. Man zog die Gequälten sehr langsam hoch. Irgendwann riss dann ein Arm, ein Bein oder ein Leib. Dann gab es Jubel von den Gewinnern und enttäuschte Schreie von den Kriegern, die vergeblich auf den ersten Abriss oder auf den ersten Durchriss gewettet hatten.
Vor ihnen im Rat der Feldherren wurde es laut. General van Heuckenroth erhob sich, hustete und rief: »Achtung, Achtung!«, wie er es immer tat, wenn er etwas verkünden wollte.
»Ich muss los«, raunte Aixa. Sie schnippte Oszra spielerisch, aber kräftig, mit zwei Fingern auf die Wange, wie sie es immer zum Abschied tat, wenn er nicht aufpasste. Sie zwinkerte dabei zufrieden und eilte dann raschen Schrittes um die Filzwand.
Er schaute ihr hinterher. Wenn sie doch mal etwas mehr Zeit hätte, er würde sie schon in seine Felle bekommen. Er träumte einen Herzschlag lang von einer Nacht mit Aixa.
»Ha!« erklang hinter ihm ein lauter Ausruf, der ihn erschrocken herumfahren ließ.
»Der feine Herr hat sich eine Pause genommen, während alle anderen hart arbeiten, so so.«
Der Küchenchef stand zwei Schritte hinter ihm und ließ die Knute langsam und liebevoll durch seine Hände gleiten.
»Die Hose runter«, sagte er, während sich sein Gesicht zu einem widerlichen Grinsen verzog.

General van Heuckenroth stand auf, holte tief Luft und rief: »Achtung, Achtung! Ähem, es ist nun alles geklärt, denke ich. Die Festung Tiebel blockiert den Zugang zu der Tiefe.«
Ein Hochziehen und Spucken auf die Seite, dann ging es weiter: »Und der… Magister, der glaubt er habe die Moral gepachtet, der hält den Widerstand aufrecht, obwohl in der Feste seit Wochen nur noch Leder gekaut wird.«
Ein feuchtes Husten unterbrach den alten, grauhaarigen Mann. Dann sprach er weiter: »Ähem, heute Nacht wird, ach was sage ich, muss Valya Simkokan, den sie den Phönix von Tiebel nennen, dieser verdammte Magister, ähem, sterben. Wenn der tot ist, dann stirbt auch die Moral der Verteidiger. Dann fällt die Stadt, ähem, das dauert nicht mal zwei Zehnteltagen, das verspreche ich euch.«
Es ging noch eine Weile weiter mit der Rede, die immer wieder von Husten und Ähems unterbrochen wurde.
Aber Ismael folgte den etwas schwülstigen Ausführungen sowie nur flüchtig, er würde heute nicht in den Einsatz gehen. Zweihundert Schritte vor den Mauern erlosch jede Magie. Seine Toten würden einfach umfallen, Steinriesen würden erstarren und Dämonen zusammenbrechen. Seine Nekromantie war hier nutzlos.
Desinteressiert ließ er seinen Blick in die Runde schweifen. Es waren knapp ein Dutzend Offiziere der Horde anwesend, sehr gemischte Ränge. Zwei Werwölfinnen schmiegten sich in die Sessel, sie kicherten und flüsterten miteinander und warfen immer wieder Blicke auf Luran. Ein Dag kauerte auf einem Baumstumpf. Er umklammerte den Griff der sechs Fuß langen Axt, deren Blatt auf dem Boden ruhte. Neben ihm saß ein Dunkelzwerg, der sich auf sein Schwert stützte und aufmerksam den Ausführungen des Generals folgte. Auch ein paar Menschen waren dabei, die sich in aufgeputzten Offiziersuniformen hervortun wollten. Diese begleiteten jede Aussage des Generals mit Kopfnicken und gedämpften Ja-Lauten. Dazwischen verstreut saßen die Kämpfer, die heute Nacht die Hauptrolle spielen sollten.
Die Vedde, eine Menschenfrau, trug ein süßes herzförmiges Gesicht auf einem schmalen Hals. Aber Ismaels Blick blieb nicht an dieser Schönheit hängen, sondern wanderte immer wieder zu ihrem Buckel. Der erhob sich, unförmig von den Schultern ausgehend, zwei Fuß über ihren Kopf. Ihr langes, schwarzes Haar floss bis über die Taille herab. Sie trug ein dünnes Hemd aus Leinen und eine enge Hose aus rohem Leder. Auch die Hülle, die ihren Buckel verhüllte, war aus Leder gefertigt.
Zwei Stühle weiter saß ein kleiner Mann, von dem Ismael nur den Vornamen behalten hatte: Crevus. Der hing dort, in seinen schwarzen Wollumhang gehüllt, halb im Stuhl; seine Beine baumelten in der Luft. Die fehlende Größe schien er mit der Fülle seines Leibes wett machen zu wollen. Er war nach vorne und nach hinten gleichermaßen dick, aufgewölbt wie ein Fass.
Der dritte, der heute Nacht mitlaufen würde, war der Werwolf Luran. Luran saß auf der anderen Seite neben Ismael und schaute auf den General.
›Was ist heute mit dem los‹, dachte Ismael, ›so hat er sich noch nie gezeigt.‹
Lurans Kopf präsentierte als Mischung aus Mensch und Wolf. Die Augenpartie und die Stirn sahen aus wie die eines Menschen, aber den Bereich von Mund und Nase war eine Wolfsschnauze. Und darunter präsentierte sich ein aufrecht gehender, breitschultriger Wolfskörper, der wallendes Fell trug. Ismael konnte es in Gedanken nicht anders bezeichnen als geckenhaftes Festgefieder.
Und die Nummer vier stapfte nun zu ihnen den Hügel hinauf. Das Tageswerk war wohl vollbracht. Es war der glatzköpfige, riesige Mann, den man nur den Schlachter nannte. Sein dicker Lederkittel spannte sich bei jedem Schritt um den feisten Leib, und seine Augen starrten blicklos auf die Gruppe. Er ging ohne eine sichtbare Regung im Gesicht. Schweiß tropfte ihm nach der harten Arbeit vom Kopf auf den nackten Oberkörper. Die Messer und Beile hingen blutbesudelt an seinem Ledergürtel.
Der Schlachter hielt am Rande des Kreises der Feldherrenstühle an. General van Heuckenroth verstummte. Der halbnackte Mann blickte sehr langsam in die Runde und musterte jeden, der dort saß, einen halben Lidschlag mit einem Übelkeit auslösenden Blick.
Dann fragte er mit einer rauen, tiefen Stimme.: »Wann geht es los?«

Am Vorabend des Kampfes

»Luran, was war das heute, was ist los mit Dir und… und diesem Heerlager? Warum wurden wir vor dem Morgengrauen aus dem Schlaf gerissen und im Galopp hierher verbracht? Und dann der Einritt in die Stadt, was war das? Plötzlich hast Du diese langen Haare, bist fast zweieinhalb Schritte groß und riechst wie eine Mischung aus Abfall und Blumen.«
»Abfall und Blumen, das hast du gut gesagt.«
»Unterbrich mich nicht. Im Lager liefen die Werwölfe zusammen, warfen sich zu Boden, winselten und versuchten dir nahe zu kommen. Denen war egal, ob sie im Schlamm lagen. Und zwei oder drei nässten sich ein, als du nur noch einen Schritt entfernt warst.«
»Ja, und die Wachen mussten sie abhalten, noch näher zu mir zu kriechen. Das ist schlimm,« schnurrte Luran fast und grinste, soweit eine Mischung aus Mund und Schnauze grinsen kann, »sehr schlimm.«
Ismael hielt inne, blickte ihn an, fasste sich und blaffte: »Also was war das vorhin und was soll das alles?«
»Ich glaube«, Luran machte eine Pause, »ich glaube, ich muss Dir mal ein paar Dinge erklären.«
»Nur zu, ich höre!«
Der Werwolf begann, in dem Zelt vor Ismael hin und her zu gehen. Zwei Schritte in die eine Richtung, zwei in die andere, dabei waren die Hände auf dem Rücken verschränkt.
»Ismael, du bist während der Finsternis geboren, die die Horde über Magira gebracht hat. Du bist die meiste Zeit deines erwachsenen Lebens mit der Horde gezogen und du bist bald ein alter Mann. Wenn ich das, was du mir erzählt hast, richtig verstanden habe, dann siehst du Dich als Sklave der Horde, der gezwungen mitläuft. Du bist ein hoher Sklave, du bekommst in den Heerzügen die Privilegien eines Offiziers. Aber du bist immer noch ein Sklave, der die Horde lieber heute als morgen verlassen würde.«
»Nein, nein, ich bin ein Teil der Horde und…«
Lautes bellendes Gelächter ließ ihn verstummen.
»Mach dir keine Sorgen, so denken viele. Aber das ist der Horde völlig egal. Alle laufen mit. Und Du vergisst, vielen gefällt es. Die Freiheiten, die es in der Horde gibt. Du bist ein guter Kämpfer? Niemand fragt, woher Du kommst, und was Dein Vater war. Du bist Stratege oder Schreiber? Nur zu, die Ämter erwarten dich. Und ganz besonders Dich, Ismael, könnte noch einiges erwarten.«
Die Bewegung des aufrecht gehenden Halbwolfs stoppte abrupt. Luran sah sich um, als würde er die schlichten Zeltbahnen und die rauen Zeltstangen zum ersten Mal wahrnehmen. Einen Augenblick später stand er als schmächtiger, fast unscheinbarer Mensch vor Ismael. Seine braunen Augen sahen ihn intensiv an.
Er sprach leise: »Ismael, Du bist so lange dabei, aber du weißt so wenig über die Horde. Ich mag dich, und ich mache mir Sorgen um Dich. Du weißt nichts, aber auch gar nichts, von dem gewaltigen Ringen um die Macht, das im Hintergrund abläuft. Vor vielen Jahren griff die Horde Magira an. Ein Angriff wie viele andere vorher. Die Horde schliff die Welten Magira, die Reiche versanken im Staub, und es entstanden überall Enklaven der Finsternis.«
Einen Herzschlag lang macht Luran Pause. Er senkte den Kopf, als er sagte: »Aber dann lief etwas schief, ganz gehörig schief. Es gab Widerstand, wo keiner mehr sein sollte. Es gab Revolten und bereits besiegte Provinzen erhoben sich. Da lief etwas ganz anders als geplant. Beschissen anders. Die Götter des Lichtes, diese eher schwächlichen und weichen Götzen, schlugen mit einer Härte zurück, die keiner in der Horde erwartet hatte. Die Horde ist jetzt tatsächlich in der Defensive. Es gibt nur eine Erklärung dafür: Verrat! Die Entwicklungen der letzten Zeit sind weit verteilt, alle sind sie darin irgendwie verwickelt: Menschen, Dämonen, Schädelträger und erst recht die höheren Dämonenlords. Azi, Samsa und andere kämpfen hier in der Wesliche Welt um die Macht. Sataki…, ja Sataki zieht die Hälfte aller finsteren Fäden auf Magira. Er hat irgendetwas vor. Das gefällt vielen in der Horde nicht. Ganz und gar nicht.«
Luran hob den Blick zu Ismael: »Xrith’ee, dein alter… Freund, der war irgendwo auch dabei, ganz vorne in den Intrigen, auch wenn ich nicht weiß, auf wessen Seite er stand.« Luran sah Ismael aus roten Augen an: »Und weißt Du, warum Xrith’ee sterben musste?«
Ismael erinnerte sich an den verhassten Toten Gott, der ihm seine nekromantischen Fähigkeiten gegeben hatte, und dessen Haut er nun als Maske trug. Er schauderte.
»Nein. Oder warte… Xrith’ee musste sterben, weil das Licht eine hohe Göttin sandte, wo er nur einen kleinen Hirschgott erwartete.«
Amüsiert hob Luran eine Augenbraue.
»Das war eine Falle in einer Falle in einer Falle. Also, die erste Falle war die des Lichtes, das die Göttin anstelle des verblödeten Hirsches schickte. Die zweite Falle war die der Horde, die diesen Plan von Spionen für teures Gold zugetragen bekommen hatten. Der offizielle Plan war, Sataki sollte eingreifen und die Lichtgöttin vernichten.«
»Sataki?«
»Ja, der hohe Dämonenlord selbst. Das wäre eine saubere Sache gewesen, für Cisaea, Sataki spielt nicht mit seiner Beute. Aber das war auch eine Falle für den Toten Gott, das war Verrat. Xrith’ee wurde zu mächtig. Sataki kam nicht, und so starb der Tote Gott in der Schlacht.«
Luran lachte halblaut und höhnisch in sich hinein.
»Gut, es gab noch eine vierte Falle, von der ich auch erst später erfahren hatte. Das war nicht schön, eine unfreundliche Überraschung für Cisaea, die Lichtschlampengöttin. Schwert und Waage halfen an dem Tag nicht viel, auch die Macht der Sonne, die sie gerne beschwor, versagte. Die Horde erweckte an diesem Tag den Schläfer, der in der vergessenen Stadt ruht. Er hatte sehr schlechte Laune und schier unendlicher Hunger wütete in seinen Eingeweiden. Seine Flügel trugen ihn mit mächtigem Flügelschlag zu ihr, und er zerriss sie mit seinem Tentakelmaul und fraß sie zur Hälfte.«
Lurans Gesicht verzog sich in falschem Bedauern: »Das war nicht schön. Das Licht weinte lange um sie.«
»Egal! Sataki kam nicht; er hat Xrith’ee verraten?«
»Vermutlich ja. Aber wie gesagt, ich weiß ich nichts Genaueres.«
›Oder du willst es mir nicht sagen‹, dachte Ismael.
Luran fing wieder an, hin und her zu gehen, langsam. Wieder in jede Richtung zwei Schritte, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Dann eine bedächtige Wendung und die nächsten Schritte folgten.
»Und noch etwas, Freund Ismael. Um deine Frage zu meiner Rolle hier im Lager zu beantworten. Weißt Du eigentlich, wer ich bin?«
Einen Atemzug lang herrschte kaltes Schweigen im Zelt.
Ismael wandte unsicher den Blick zur Seite, wo der Wein auf einem grob gezimmerten Tisch stand. Er machte ein Schritt hin zu dem Tisch und schenkte sich ein. Seine Hände zitterten dabei. Er nahm einen großen Schluck des bitteren Roten, dem schnell ein zweiter folgte.
Er sah Luran an und sagte langsam halb fragend: »Du bist mein Freund Luran, der Werwolf.«
Luran erwiderte: »Ja, das bin ich. Aber weißt Du wie mein voller Name lautet?«
Ismael erwiderte nichts.
»Ich bin dein Freund Luran. Aber ich bin auch Llranthan Luran Bergblut, Kronprinz des Rudels vom Blauen Mond aus dem Lande Gloeston. Heute morgen trug ich die Gestalt und den Geruch des Anführers dieses Rudels, um meinen Anspruch zu zeigen, das Rudel zu führen. Ich hätte jeden Werwolf im Lager getötet, der sich nicht unterworfen hätte.«
Ismael trat einen Schritt zurück, der Arm mit dem Becher sackte nach unten. Wein tropfte schwer wie Blut auf den Boden und färbte das Gras.
»Kronprinz… des… vom blauen… des größten…«
»Es ist nur das zweitgrößten Rudel der Horde auf Magira.« Luran machte eine kurze Pause, dann spuckte er aus und sagte: »Noch.«
»Darum gab es für dich in jeder Garnison so einfach Papiere und Gold für die Reise.«
»Ja, solch ein Name und mein Stallgeruch, die haben Vorteile.«
»Und warum haben sie dich gesucht und hierher gebracht?«
»Ich bin ausgebildet, jeden zu finden und zu töten, den ich finden und töten will. Ich werde mit den anderen drei zusammen den Magister töten.«

Der Angriff

Ismael konnte seine Magie nicht einsetzen, er saß nutzlos auf dem Feldherrenhügel, ebenso wie einige verletzte Offiziere und die anderen Magier. Dazu gesellten sich ein paar magische Wesen und die Schreiber und Buchhalter. Die Nacht brach herein, als unten in der Ebene die große Bestie Schlacht erwachte. Sie setzte sich langsam auf die Feste zu in Bewegung. Brüllende Krieger waren weiter hinten auszumachen, die Arbeiter, vermutlich Bauern, mit Lanzen antrieben. Diese mussten die Belagerungsgeräte nach vorne schleppen, links und recht von Dags mit Lanzen flankiert und auf Kurs gehalten.
»Arme Schweine«, murmelte die weibliche Ordonanz halblaut vor sich hin, die Ismael Wein einschenkte, »davon kommen nicht viele zurück.«
»Ja. Meist ist es so, Arbeiter sterben, Krieger sterben. Für mich ist es am Ende egal. Und du sei froh, wir sind heute nicht dran.«
Sie schaute hastig auf ihn, überrascht das er ihr antwortete. Sie schien etwas sagen zu wollen, doch dann senkte sie still den Kopf und schluckte den Satz hinunter.
Ein Dutzend hastig zusammengezimmerter Trebuchets nahm die Arbeit auf. Kugeln aus loderndem Pech, Ghoule und brennende Skelettkrieger zogen als Geschosse ihre Bahn durch die Nacht. Einige zerschellten an der Mauer, doch die meisten flogen weit genug, um in der Stadt zu landen und Chaos zu stiften.
Kriegshörner ertönten dumpf und langgezogen; schwere Reiterei zog schwerfällig an der rechten Flanke entlang nach vorne. Sie sicherte diese Flanke, und die lanzentragenden, mit schwarz-silbernen Rüstungen gepanzerten dunklen Ritter hielten sich bereit, um jeden Ausfall zu brechen.
»Woher…«
»Was meint ihr?« fragte Ismael und sah sie an.
»Ich meine, woher kommt dieser merkwürdige Rauch.«
Die junge Frau neben ihm zeigte auf weiße Schwaden, in denen sich dünne schwarze Fäden wanden.
Ismael beobachte die Erscheinung. Er konnte den Rauch sogar riechen, es war als würde direkt neben ihm ein Feuer brennen, in das jemand nasse Tannenzweige geworfen hatte. Die sich windenden Fäden wurden mit jedem Atemzug schwärzer und dicker. Einen Atemzug später schnellte einer davon nach vorne. Er berührte Ismael und die Welt um ihn herum versank in Rauch.

Luran sah an der Mauer aus massiven Steinquadern empor, die sich vor ihnen erhob, und in der Dunkelheit weiter oben verlor.
»Wann geht es los?«
Ein dumpfer Schrei erklang weit oben, dann flog etwas durch die Nacht. Ein Seil entrollte sich und das Ende kam ein paar Schritte vor ihnen zu liegen.
»Gold findet doch immer einen Weg.«
Luran wollte das Seil ergreifen, doch die Vedde kam ihm zuvor. Sie sprang aus dem Stand fast sechs Fuß hoch, um dann elastisch Hand über Hand nach oben zu klettern. Es schien fast, als würde sie von einem unsichtbaren Seil nach oben gezogen.
»Angeberin«, knurrte Luran, dann folgte er ihr, so schnell es ihm möglich war.
Die Vedde flankte über die Mauerkrone. Dort lagen zwei tote Wachen und ein dritter Mann, der aussah wie ein Bäcker.
»Gut«, sagte sie, als sie sah, dass ein ordentlicher Knoten das Seil fest an einen eingelassenen Ring aus Metall sicherte. Dann vollzog sie eine scharfe Drehung nach rechts. Dort erklangen Rufe und vier oder fünf Wächter rannten den Wehrgang entlang auf sie zu, so gut es ihre Halbrüstung und die Enge zuließen. Ein zufriedenes Lächeln flog über das Gesicht der schlanken buckligen Frau, das sie sehr schön und lieb aussehen ließ. Sie stieß sich nach vorne ab, und kam nach einer fließenden Rolle kniend, fast mittig, in der Gruppe zum Halt. Ihre Dolche zucken nach links und rechts; einer gedankenschnell nach oben und einer wuchtig in Richtung Boden. Eine Wache brüllte auf und griff sich zusammensinkend ins Gemächt. Der andere Mann, den sie getroffen hatte, sank auf die Seite und starrte auf seinen Fuß, in dem ihr Dolch von oben steckte. Ein Heulen und Schluchzen entrangen sich seiner Kehle, als er nach hinten sank. Die beiden anderen Wachen zögerten nicht einen Moment. Sie brachten trotz der Enge die Schilde nach vorne, um sie dann mit voller Wucht krachend auf die Vedde zu schmettern. Diese verlor das Gleichgewicht und wurde zu Boden geworfen. Ein hoffnungsvoller Ausdruck trat auf die Gesichter der Wachen, der abrupt verschwand, als sich Luran in Wolfsgestalt auf die beiden warf. Der linke Mann verlor seine Kehle durch einen einzigen Biss, der Blut in alle Richtungen spritzen ließ. Die Vedde nutzte den Moment, rollte sich auf die Seite und stieß zu. Wie von einer unsichtbaren Leine geführt, drang ihr Dolch mit einem Knirschen in eine Stelle ein, an der sich die Lederteile der Rüstung überlappten.
Der Schlachter und Crevus standen ungeduldig dort, wo sie über die Mauer geklettert waren, und sicherten die andere Seite des Wehrgangs.
Die Erbauer hatten die Feste auf einem Tafelberg errichtet, sie maß in der Länge fast eine dreiviertel Meile und war von einer unüberschaubaren Menge von Gebäuden bedeckt. Sie befanden sich an einer der hinteren Ecken und mussten sich durch die Anlagen schlagen, um Valya, den Phönix zu erreichen. Irgendwo dort vorne befehligte er die Verteidigung.
»Weiter, weiter, bevor es Alarm gibt!« rief Luran und stürmte in das Dunkel zwischen zwei Baracken.
Sie kamen etwa drei oder vierhundert Schritte weit, dann erklangen kurze, schnelle Alarmhörner, die ihre Anwesenheit signalisierten. Die Verteidiger hatten sie entdeckt, und sie formierten sich recht schnell.

Durch die Augen eines Werwolfes im Kampfrausch betrachtet, war die Welt immer in ein leichtes Rot getaucht, auch in der dort herrschenden Nacht. Und schon eine einzige Fackel reichte aus, um für ihn eine Gasse zu erhellen, während die Menschen darin langsam umher liefen, wie Blinde und Lahme; sie waren leichte Beute: Laufen, springen, beißen, weiter, weiter, da vorne der nächste. Die anderen aus seinem Rudel waren so langsam, nur die Vedde, die durch die Gassen sprang, rollte, stach und bei jedem Treffer hell lachte, konnte fast mit ihm mithalten. Der Schlachter bewegte sich wie halb aus Stein, er zerschnitt jeden Angreifer unerträglich langsam mit seinem Schlachterbeil. Und Crevus, wo war Crevus?
Der Durchgang zwischen einer Backstube und einer Stallung öffnete sich auf einen Platz, auf dem drei oder vier Lastkarren standen. Aus den Türen traten Gepanzerte in Vollrüstung und Bogenschützen, die sofort ihre Kurzbögen hoben und anlegten. An den Spitzen sah Luran ein unerträglich helles, gleißendes Glänzen. Silber! Er heulte Wut und Zorn hinaus und warf sich nach hinten, in die Deckung eines Karrens, während die Pfeile sirrend an ihm vorbei flogen.
»Das wird hässlich«, sagte die Vedde, die plötzlich neben ihm hockte und ganz ruhig die Szenerie betrachtete.
Der Schlachter trat aus dem Schatten und lachte brüllend. Er trug Crevus auf dem Arm, der sich dort fast zu einer Kugel zusammengekrümmt hatte. Sofort prasselten Pfeile auf den Schlachter nieder, doch diese trafen weder die Sehschlitze seines Topfhelmes, noch kamen sie durch die metallverstärkte Lederschürze. Die Pfeile im Körper ignorierend, warf er Crevus zu den Rittern, um selber dann grunzend zu den Bogenschützen zu stapfen. Sein grobes Schlachterbeil zuckte herab. Der Bogner vor ihm hieb mit einem letzten, schnellen Todesreflex sein Messer tief in die Fettwülste des Bauches, bevor er unter dem wuchtigen Hieb starb. Mit einem hellen Klirren brach die Klinge ab, während im tiefen Schnitt, der sofort begann sich zu schließen, kurz ein Metallgeflecht sichtbar.
Crevus kam als Kugel auf dem Boden auf. Vor einem der Ritter stand er auf und faltete seinen Bauch auseinander. Dort öffneten sich bläulich umrandete, chitinbedeckte Schlitze und heraus schnellten zwei mehr als armlange Mandibeln, die den Ritter knapp unter dem Brustkorb umfassten. Der Mann schrie gellend und hieb panikerfüllt mit Kurzschwert und seiner gepanzerten Faust auf Crevus. Seine Schläge, und auch die Attacken mit dem Schwert, die seine Kameraden ausführten, glitten wirkungslos an Crevus‹ Kopf ab, der unter einer Haube aus Chitin verschwunden war. Dann setzte ein stöhnendes metallisches Knirschen ein. Die Rüstung wurde langsam aber unerbittlich wie durch eine Presse zusammen gedrückt, bis die entsetzen Schreie des Mannes in ein Röcheln übergingen und verstummten. Panik ergriff die Wächter, und sie flohen, so weit sie es noch konnten.
Dann ging es weiter. Luran lief voran, durch die Nacht, durch die rote Dämmerung der Wut. Ein herausforderndes Heulen entrang sich seiner Kehle.

Die Männer auf den Wehrgängen schossen mit Bögen nach unten. Unter die gewöhnlichen Pfeile aus Holz mischten sich Brandpfeile und welche mit silberner Spitze. Das Gebrüll der Verteidiger und das der Angreifer vermischte sich zu einem chaotischen Dom aus Lärm. Auf der mit Kopfstein gepflasterten Straße vor den Wehranlagen zogen schwere Gespanne vorbei. Überall rannten Bewaffnete, Träger und Boten ihrem unbekannten Ziel entgegen. Valya Simkokan stand auf einer hölzernen Plattform, die die Zimmerleute errichtet hatten. Von dort verfolgte er die Lage, schickte immer wieder Boten los, oder wies den Trompetern Signale an. Aufrecht stand er da, in einen schwarz-roten Mantel gehüllt. Wenn er mit seinen Adjutanten und Offizieren sprach, dann gab er seine Anordnungen fast im Plauderton und mit sparsamen Gesten.
Die Trebuchets der Horde waren durch die fest montierten, aber drehbaren Wurfgeschütze der Verteidiger bereits zerstört. Von oben hatte sich das leicht gestaltet. Es liefen wohl noch zwei oder drei Ghoule und Skelettkrieger in der Stadt herum, doch die Brände der Feuergeschosse waren weitgehend gelöscht. Der Magister der Festung blickte recht zufrieden auf die Lage. Der Angriff der Horde hatte unten vor der Mauer, im tiefen Schlamm der Gräben, bereits deutlich an Schwung verloren. Dazu kam der starke Beschuss von oben, der sein übriges tat und die Angreifer bald brechen würde.
Ein Adjutant zupfte aufgeregt an seinem Ärmel.
»Herr, seht doch!« rief er.
Valya wandte sich dem Tumult zu, der sich in den letzten Augenblicken hinter ihm entwickelt hatte. Eine Handvoll seine Männer hieben auf unbekannte Angreifer ein. Er grinste zufrieden und wollte sich wieder nach vorne wenden, doch dann gefror sein Grinsen. Aus dem Tumult schob sich eine riesige, halbnackte Gestalt, die die Männer links und rechts mit wuchtigen Hieben zerteilte und zu Boden warf. Zwei weitere Angreifer sprangen wie Schatten links und rechts nach vorne. Ein Werwolf und, er traute seinen Augen nicht, eine bucklige Frau. Als die Toten zu Boden sanken, war ihm das egal. Er brüllte den Männern, die vor der hölzernen Plattform standen, einen Befehl zu: »Garde von Tiebel! Beendet das! Sofort!«
Zwanzig große Männer, in dunkelblaue Halbrüstungen gehüllt, schlugen Schwert und Lanze wie ein Mann auf die Schilde und riefen: »So sei es!« Sie drehten sich um und griffen in den Kampf ein.

Die Angreifer schafften es schnell über die erste Hälfte der Straße. Die Treppe zu der Plattform des Phönix erschien fast schon erreichbar, nur noch vielleicht ein Dutzend schneller Schritte entfernt. Doch dann schritt die Garde ein. Die Hälfte trug Schwert und Schild, die andere kurze, schwere Lanzen mit unterarmlangen Flügelspitzen. An jeder Klinge sah Luran Silber aufblitzen, und er sprang panisch zurück. Die Vedde versuchte, nach vorne zwischen die Männer zu springen, doch die hohen Schilde wurden zu einer engen Mauer zusammengezogen, die sie blockierte. Die Lanzen wurden von oben in seitliche Aussparungen in den Schilden eingelegt und sie sah sich den tödlichen Speerspitzen gegenüber. Sie musste weichen.
»Zur Seite ihr Maden, ich mach das«, grunzte der Schlachter verächtlich. Er wandte sich dem ersten Wächter auf der linken Flanke zu. Der und seine Nachbarn wichen etwas zurück, wachsam, aber auch ängstlich.
»Menschliches Vieh «, spuckte der Riese aus, machte einen weiteren Schritt, und hob sein Schlachterbeil, als ein ein dumpfer Laut erklang und ein erstaunter Ausdruck auf sein Gesicht trat. Die Verteidiger auf der Mauer hatten einen Skorpion gedreht und ihn auf den Angreifer abgefeuert. Ein Bolzen, so dick wie der Arm eines Mannes, ragte aus seiner Brust. Die Wucht hatte den Bolzen fast komplett durch den Schlachter getrieben, und sie war so groß, dass das unter der Haut eingelassene Kettenhemd nicht standgehalten hatte. Die Spitze ragte zwei Zoll aus dem Rücken heraus. Die unförmige Gestalt des Schlachters sackte langsam in sich zusammen, wobei er vergeblich versuchte, den Bolzen herauszuzerren. Dann sackte er mit einem mit einem ungläubigen Ausdruck zur Seite und regte sich nicht mehr.
»Rückzug?«
»Nein, für Rückzug sind wir nicht hier«, zischte Crevus und rannte auf seinen kurzen Beinen in die Gruppe der Gardisten. Sofort prasselten Schwerthiebe auf ihn ein, deren Wucht ihn zu Boden drückte. Doch Luran konnte sehen, dass er sich immer noch schützte, das er auf Hände und Knien stabil hockte, und das seine Panzerung hielt. Der Käfermann riss seinen Umhang zur Seite und entblößte darunter schwärzliche Flügeldecken. Diese klappten mit einem schmatzenden Laut auf und aus vier zitzenartigen Drüsen auf dem Rücken trat Sprühregen aus, der die Gardisten von unten einnebelte. Die Schwerter und Lanzen krachten auf den nun ungeschützten Rücken der kleinen Gestalt, konnten aber das Verteilen der Flüssigkeit in der Luft nicht verhindern.
Einen Atemzug später hörten die Hiebe auf. Die großen Männer in Leder und blau gefärbtem Stahl begannen zu taumeln, sie sanken in die Knie und übergaben sich würgend. Eine Mischung aus Essen, Galle und Blut ergoss sich in dicken Strahlen auf das Kopfsteinpflaster. Die Garde war ausgeschaltet.
»Luft anhalten und durch!« rief Luran.
Er sprang im weiten Bogen über die Garde, und die Vedde machte eine Rolle darüber. Dann flogen sie die Treppe hoch, auf die Plattform auf der Valya Simkokan erstarrt stand und voller Unglauben auf die sterbenden Gardisten sah. Von dort irrlichterte sein Blick zu den Angreifern.
»Beste Grüße von der Horde, Herr Magister!«
Ein tiefer Biss grub sich in den Hals, ein schneller Stich zerfetzte das Herz, und der Phönix brach blutend zusammen.
»Und jetzt raus hier!« rief Luran der Vedde zu.
Die Frau zögerte nicht einen Moment. Während Wachen auf die Plattform drängten und die ersten Pfeile in ihre Richtung flogen, riss sie sich die dicke Lederhaube vom Buckel. Dann breitete sie ihre wunderschönen, siebenfach unterteilen Flügel aus, deren feste ledrige Haut schwarz irisierend und feucht glänzte. Sie umfasste Lurans Brustkorb dicht unter den Vorderbeinen und sprang mit ihm über die Mauer in die Nacht.
Das Brüllen der Verteidiger verklang hinter ihnen, während sie über die Angreifer segelten und vereinzelte Pfeile an der festen Lederhaut der Flügel abprallten. Das triumphierende Lachen der Vedde perlte durch die Nacht.

Das Erwachen

»Wach auf, wir müssen los!«
Etwas rüttelte an seiner Schulter, aber er blieb noch einen Moment bei dem Schiff im Traum.
»Ismael, was ist, komm hoch!«
Die Stimme kam ihm bekannt vor. Er zwang seine Augen auf, der Traum verblasste im Hintergrund, wie Rauch, der sich von einem Schornstein im Winter löst und verschwindet.
Luran stand keuchend und halb gebeugt vor ihm, packte ihn hart an der Schulter und rüttelte diese.
»Was war, was ist los, was…« stammelte Ismael, der sich nach vorne beugte, die Schultern zusammengezogen, als würde er sich gleich übergeben.
»Der Phönix ist tot, aber auch wieder nicht. Ich habe ihn zerlegt, und die Vedde auch. Kehle raus und den Dolch tief in den Leib. Direkt ins Herz. Schnell und hässlich. Das kann keiner überleben. Aber er lebt. Als hätte ihn ein Nekromant wieder erweckt, niemand versteht es.«
Luran sah Ismael dabei schräg von der Seite an.
Ismael richtete sich auf, schwankte dabei im Sessel hin und her und sagte hastig: »Aber in Tiebel gibt es keine Magie.«
»Ja, richtig. Und Van Heuckenroth dreht fast durch. Das, was heute passiert ist, kann ihn seinen Kopf kosten. Aber das ist jetzt für uns egal, wir müssen das Lager im nächsten Zehnteltag räumen, oder wir sterben. Die Späher berichten, Aszra Assalonn treibt seine Leute im Gewaltmarsch durch die Ebene. Die geben alles, um uns zu kriegen. Lass alles hier liegen, und komm. Die drei Pferde, ausgeruht und mit Wasser und Nahrung beladen für sechs Tage, stehen bereit. Sie werden uns bis Nabur bringen.«
»Drei Pferde?«
»Ja, die Vedde kommt mit uns.«
»Was? Warum?«
Luran sah Ismael mit einem Blick an, der sagte: ›Frag nicht weiter.‹
»Gut, dann los.«

Epilog

Am nächsten Morgen, an der Asche des erloschenen Feuers liegend, erinnerte sich Ismael an seinen Traum.

Er schritt durch eine Schlucht, deren schwarze aufgerissenen Felsen oben im Rauch verschwanden. Jeder Schritt war merkwürdig leicht und schwer zugleich. Er trat aus der Schlucht und vor ihm erstreckte sich ein Strand aus grobkörnigem schwarzen Sand. Am Ufer lag ein riesiges Schiff, das aus wirbelndem Rauch bestand, der sich unaufhörlich in sich selbst drehte. Das Segel, das halb in Fetzen hing, bauschte sich unter einem Wind auf, den es nicht gab.
Er bewegte sich auf das Schiff zu, mit der vagen Ahnung, dort etwas zu finden, das er suchte.
Die nächsten zwei Schritte trugen ihn bis vor die hölzerne Planke, an der oben eine massige dunkle Gestalt stand.
»Ich bin Jasaan Vander, der erste Maat. Wer seid ihr und was begehrt ihr an Bord?«
»Ich möchte mit jemanden reden, der für mich verloren ist.«
»Und wen kann ich melden.«
»Sagt mir zuerst, wer unter wessen Kommando steht das Schiff?«
Der Offizier schnarrte: »Der Herr Kapitän ist Azi Azatoth der Jüngere, hoher Schädelträger der Horde. Und sag er nun an, wer er ist!«
»Nennt mich Ismael.«

Vom Tode der Moral
Klaus Erichsen
Hamburg, September 2022

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