Einhundert Goldstücke

Eine Bösenachtgeschichte

Die Tradition der Bösenachtgeschichten bei der Horde wird gerne gepflegt. Damit werden die Kleinen schon früh durch lehrreiche Erzählungen auf die Widrigkeiten des Lebens und die ausgeprägte Feindlichkeit der Welt vorbereitet.

Vor langer Zeit herrschte die schöne Lydia von Stauss, halb hordische Dämonin und halb Vampirin, über ein großes, fruchtbares Tal in einem Königreich im Wes. Lydia war beliebt im Tal, und die Menschen fürchteten sie nicht, denn sie hatte geschworen, nie ihre Blutlust an den Untertanen auszulassen und das Tal zu schützen.

Die jungen Männer liebten und verehrten sie, denn sie pflegte immer 10 von ihnen um sich zu scharen, und ein jeder von ihnen wäre gerne dazu auserwählt. Lydia, so hieß es, wäre unersättlich, was die körperliche Liebe anging, und die kraftstrotzenden Jünglinge dienten ihrer Befriedigung. Lydia nannte diese Männer ihre Goldstücke. Diese waren ihr stets einige Jahre zu Diensten, um dann nach dem Ende dieser Zeit reich belohnt hinaus in die Welt zu ziehen, meist an den Hofe des Königs.

Die schöne Talherrin liebte das Spiel der Geschlechter. Sie steigerte ihre Lust oft mit schwarzen Leichenpilzen, und dann mussten ihre Geliebten sie die halbe Nacht verwöhnen. Sie bestiegen sie auf diese und auf jene Art, leckten sie hier und dort, und sie wurde überall gestoßen und gestreichelt, und viele Dinge mehr. Wäre das jemals über die Mauern des Schlosses getragen worden, die eine Hälfte des Königreiches wäre errötet und die anderen Hälfte vor Neid erblasst.

Die Spiele mit den zehn Gespielen füllten die langen Nächte voller Lustbarkeiten: Gerne wurde ›Bauer und Schwein‹ gespielt; dafür brauchte man immer einige Gardinen und ein paar Gerten. Und sehr beliebt bei allen war ›Heute Nacht wird gejagt‹, das sich durch alle Keller und Gänge zog. Oft endete die Nacht oben auf der Dachterrasse, von wo aus Lydias Schreie der Lust über das Tal schallten. »Wenn es Lydia gut geht, dann geht es dem Tal gut«, knurrten die Bauern in ihren Stuben. Und die jungen Männer, die das hörten, träumten davon, das sie einst dort im Schlosse dienen würden.

An einem schönen Nachmittag, da war es wieder einmal so weit, ein Dienst würde enden. Lydia von Stauss rief einen der jungen Männer herbei. ›Zum Tee‹ hieß es. Aber alle wussten, was damit gemeint war. »Nur herein«, sagte die Schöne zu dem jungen Mann Sie trug nur ein wenig Tüll und Perlen. »Euer Dienst endet nun. Aber lasst uns an diesem schönen Tage noch einmal der Freude frönen«. Sprachs und zog ihn mit gieriger Zärtlichkeit zu sich heran.

Der Junge Mann erwachte irgendwann später, die Sonne versank hinter den Hügeln. Eine unendliche, bleierne Müdigkeit erfüllte ihn. Er fühlte Schmerz an seinem Hals, und als er unwillkürlich an die Stelle fasste, ertastete er zwei kleine Wunden und Nässe. Blut klebte an seiner Hand, als er sie ansah. Er blickte auf und sah Lydia, sie stand seitlich vor ihm und lächelte schmallippig. Sie sagte: »Danke für alles, mein Liebster« und verließ den Raum.

»Schau mich an«, sagte ein unscheinbarer Mann, der ihm gegenüber saß, und ihn intensiv ansah. Der Mann begann merkwürdig zu zucken und zu keuchen. Der junge Geliebte konnte nicht glauben, was er sah: Die Gestalt des Mannes verlief wie heißes Wachs, nur um sich dann neu zu formen. Am Ende saß er seinem Ebenbild gegenüber. Der Gestaltwandler stand auf, trat zu ihm und sagte: »Nun werde ich an deiner Statt davon reiten. Ich werde allen sagen, das es an den Hof des Königs geht, wo mich eine gute Position erwartet. Und alle deine Freunde werde dich bald vergessen.«

Die letzten Worte hatte der abgelegte Gespiele schon nicht mehr gehört. Der Blutverlust ließ ihn in die Bewusstlosigkeit gleiten. Durch ein zur Seite geschobenes Paneel an der Wand trat ein Ghoul, der den Liegenden ergriff und mit sich zerrte. Er ächzte und murmelte vor sich hin: »Dein Körper weißt du, der dient der Herrin, so oder so. Du wirst ein guter Nährboden sein, mein toter Freund. Ich lege dich zu den anderen, keine Sorge, du liegst nicht allein. Die Sporen werden in dir keimen und nach ein paar Wochen trägst Du die besten, schwarzen Leichenpilze. Das wird Lydia erfreuen, sie braucht viele davon.«

Am Abend saß der Gestaltwandler in einem Rasthof vor dem Kamin. Lydia zahlte gut; in seiner Hand hielt er zufrieden eine Goldmünze des Reiches. Sie trug auf der einen Seite ein stilisiertes Portrait von Sataki und auf der anderen eine Rune. Das war die einhundertste Münze für seine Dienste für Lydia von Stauss.

EINHUNDERT GOLDSTÜCKE
Klaus Erichsen
November 2021

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