Der hordische Knoten
Kommt man als Fremder auf die Schädelinsel, vermittelt sich einem der erste Eindruck, dass es sich bei der Horde der Finsternis um eine Versammlung von Tausenden von Einzelkämpfern handelt, in der jeder jeden bekriegt.
Erst allmählich erkennt man, dass die meisten Mitglieder der Horde in einem sehr komplizierten Beziehungs-, Schutz- und Schuldkomplex miteinander verbunden sind, der so unübersichtlich ist, dass ein neutraler Beobachter, der einmal versuchte, diese Beziehungen mittels Diagramm darzustellen, etwas erhielt, was er fürderhin den „hordischen Knoten“ nannte, den man nur mittels eines brutalen Schwertstreiches gegen die dargestellte Person lösen könne.
Verbindende Klammer ist meistens die Horde selbst. Die Einheiten, in denen man diente, die Kameraden, mit denen man fremde Länder unsicher machte, das sind lebenslange Bindungen, die niemand so leicht abschüttelt.
So wird jeder, der einen Mitarbeiter sucht, zuerst auf die ihm bekannten Leute zurückgreifen, die Mitglieder seiner Einheit, denen er schon mehr als einmal das Leben rettete und von denen er mehr als einmal gerettet wurde, was ja schlüssig ist, denn wäre er nicht gerettet worden, könnte er ja keine Mitarbeiter suchen.
Manch ein älterer Hordling, der in Ureban lebt, ist Mitglied in einem der vielen Veteranenvereinigungen.
Natürlich gibt es auch die Ehe und Familie, die Bindungen schafft, denen man immer verbunden bleibt. Viele Fremde können sich nur darüber wundern, wie innig diese Beziehungen sein können.
Dann gibt es die Zugehörigkeit zu den eigenen Gruppen, die Stämme, Meuten und Rudel, Volksgruppen oder Rassen genannt werden, die im Zweifel gegen den Rest der Welt zusammen halten.
Berufliche Bindungen gibt es, gehört der Hordling einem Nachbarschaftskomitee, einer Bande, einer der Gilden und Zünfte an.
Und auch der Wohnort spielt eine Rolle. Hordlinge, die nicht am Knochenwasser leben, gehören oft einer Brunnennachbarschaft an.
Die Bindungen der einzelnen Personen und Rassen an die Gruppen ist verschieden stark ausgeprägt.
Menschen leben zumeist in Familienverbänden, haben aber auch Beziehungen zu ihren Stämmen, sofern sie aus einer Stammeskultur stammen (nettes Wortspiel, oder?). Ihre Verbindungen zu Zünften, Veteranenverbänden oder Nachbarschaftskomitees sind davon unabhängig.
Werwölfe leben in Rudeln, die sie zugleich als ihre Familien definieren. Zuweilen sind sie auch in Veteranenverbänden oder Nachbarschaftskomitees organisiert, nie aber in Zünften.
Oger leben in Stämmen und haben so etwas, was im weitesten Sinne als Familie bezeichnet werden kann, sieht man einmal davon ab, dass Kannibalismus innerhalb dieser Familien nicht unüblich ist. Sie begreifen normalerweise weder den Sinn von Veteranenverbänden, noch den von Gilden und Zünften.
Der Umstand, dass erfahrene Mitglieder der Horde der Finsternis darüber Bescheid wissen, dass es viele Verbindungen zu vielen Netzwerken gibt, sorgt dafür, dass die Stadt nicht in Mord und Totschlag versinkt. Denn bevor man jemanden einfach so umbringt, sollte man sicher sein, dass derjenige keine mächtigen Beschützer hat. Oder dass man nicht in der gleichen Verbindung ist.
Diese Verbindungen helfen, Streitigkeiten zwischen Oger und Menschen zu schlichten, denn ein ehemaliger Hauptmann kann immer noch den Ogern befehlen, von den Menschen, die sie gerade fressen wollen, abzulassen. Der Großmeister kann prügelnde Orks und Ghoule beschwören, sich daran zu erinnern, dass sie doch alle zur Zunft der Ziegler gehören und man sich als Mitglieder dieser Zunft nicht streiten sollte.
Doch die verschiedenen Verbindungen können nicht nur Drohgebärden in freundliches Schulterklopfen verwandeln. Sie können auch das genaue Gegenteil bewirken.
Am Offensichtlichsten ist dies natürlich bei den rivalisierenden Nachbarschaftskomitees. Ständig toben Viertelkriege und ein heute geschlossener Frieden kann morgen schon wieder hinfällig sein.
Doch auch die Streitigkeiten verschiedener Zünfte schaffen Konflikte. Am Augenfälligsten ist hier wohl der Streit zwischen der zwergischen Schmiedezunft und den Mitgliedern der anderen Schmiedezunft. Da die Zwerge für sich das alleinige Recht der Berufsausübung beanspruchen, kommt es regelmäßig zu blutigen Auseinandersetzungen.
Hier setzt nun das chaotische Organisationstalent der Mitglieder der Horde der Finsternis ein. Jeder Einzelne muss versuchen, aus seinem persönlichen Beziehungsgeflecht die größten Vorteile und die geringsten Nachteile herauszuholen. Dabei versucht er, allen Seiten gegenüber die größtmögliche Loyalität zu wahren. Es ist ein schwieriger Drahtseilakt, doch die meisten Hordlinge beherrschen ihn meisterhaft.
Sie überleben, indem sie den „hordischen Knoten“ einfach mit einem großen Schritt übergehen.