Der Weg

Als er die Augen aufschlägt ist es noch dunkel in seinem Schlafzimmer. Seine Sinne sind sofort hellwach, das Geklapper aus der Küche, der Geruch nach Schlaf und frisch gebrühtem Khaffa. Stimmen. Aber weit weg.

Er steht auf. Streift das Nachtgewand ab, zieht sich an. Kein Blick in den Spiegel.

Frühstück, frisch gebrüht, frisch gebacken. Er geht direkt zu seinem Stuhl, nimmt Platz. Stimmen. Weit weg.

Er steht auf, greift nach dem Pergament mit den vielen Buchstaben, Sätzen, Spiegelstrichen, Aufzählungen. Unterstreichungen.

Er greift nach dem leichten Umhang, die Sonne brennt vom Himmel, der Gestank der Stadt. Weit weg.

Die Treppe nach unten, die Tür zur Straße, die Straße. Er geht seinen Weg, ohne nach den beiden Schatten zu sehen, die ihn begleiten. Der Lärm, das Geschrei, das Rattern der Wagen, das Wiehern der Pferde. Weit weg.

Er sieht nur die Straße, nicht die Häuser links und rechts, nicht die Rauchschwaden am Himmel, nur die paar Schritte in Staub und Unrat genau vor sich. Die Stadt drängt auf ihn ein, doch er nimmt es nicht wahr. Die Augen tränen durch den Rauch, doch er bemerkt es kaum.

Links herum, rechts herum. Mal ist die Straße breiter, mal schmaler, einmal nur der Durchgang zwischen zwei Häusern. Wer ihm entgegenkommt, der weicht aus, ohne dass er es bemerkt.

Das große Tor öffnet sich gerade rechtzeitig für ihn, so dass er ohne seinen Schritt zu verlangsamen weitergehen kann. Es wird leiser, nur die Schläge auf den Boden gerammter Sperre. Quietschende Türen. Er sieht nur die paar Schritt weit vor seinen Füßen.

Bis er ins einer Kammer ist. Die Tür schlägt hinter ihm zu, er streift den Mantel ab, nimmt Platz. Er starrt auf die Tischplatte vor ihm, übersät mit Schriftstücken, doch er sieht nichts.

*

Als sich die Tür hinter ihm öffnet, blickt er kurz auf. Nickt, erhebt sich.

 

Düstere Gänge, Tageslicht, Fackeln blaken. Die zweiflügelige Tür zum großen Saal, durch große Fenster dringt gedämpft der Lärm der Stadt. Stühlerücken, Mantelraschen, lautlos Verbeugungen.

Er spricht die Worte, die er an diesen Tagen immer spricht. Hört sie selbst kaum. Blickt über die Köpfe hinweg in den blauen Himmel.

Alle Vertreter von Vertreter, alle Vertreter, Beauftragten, Gesandten, Emissäre, Botschafter, Bevollmächtigten, Delegierten und Ordonanzen verlassen den Saal. Dies ist eine Zusammenkunft des Dämonenrats.

Der Saal leert sich. Er blickt nach der großen, reich verzierten Tür rechts von ihm, die verschlossen scheint.

Das Getrappel der Füße, trampeln von Stiefeln, klackern von Ledersohlen. Es wird leiser. Er sieht sie nicht, er hört sie kaum, ist da schon wieder Rauch in der Luft? Die große Tür schlägt zu, es bleiben die Geräusche der Stadt durch die offenen Fenster.

Er wendet sich zu seiner Rechten, öffnet die Tür, schließt sie wieder hinter sich.

Etwas erhöht der mit feinsten Intarsien gearbeitete Stuhl, schreiende Münder, schreckgeweitete Augen, grausame Verstümmelungen.

Leer.

Kaum noch Geräusche. Keinen Blick für die Gemälde an den Wänden.

Staub überall.

Das Privileg, diesen Raum betreten zu dürfen. Teuer bezahlt.

Wut.

Verzweiflung.

Und, kalt, so kalt in der Brust.

Einsamkeit.

 

Der Ureban-Zyklus
DER WEG
Michael Scheuch
Bickenbach, Juni 2013

 

 

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