Das Haus der Sierhalls wurde nach und nach wieder aufgebaut. Es war bei weitem kein Palast, aber es regnete nicht herein und sie hatten Türen und Fenster, die verschlossen werden konnten. Der Handel von Kuro blühte auf, nachdem die junge Familie auf der Schädelinsel angekommen war. Er musste nicht mehr im Geheimen agieren, konnte offen mit exotischen Kräutern und Präparaten handeln. Er versteckte seine Zugehörigkeit zur Horde nicht und trug Knöpfe mit dem Wappen an deinem Mantel. Am Anfang waren einige seiner Kunden, die nicht auf der Schädelinsel beheimatet waren, vorsichtig. Schnell verstanden diese jedoch die Vorteile eines Händlers mit wenig Skrupel und Zugang zu so vielen verschiedenen Organisationen, Handwerken und Rassen. Ob es jetzt eine von Schwarzen Zwergen geschmiedete Axt, Gift von Dunkelelben oder Söldner, die die Drecksarbeit für einen erledigen – Kuro konnte es organisieren.
Seine Frau Sunako genoss es sehr, sich nicht mehr verstecken zu müssen. Als Hexe, die Magie und Alchemie praktizierte, musste sie früher immer auf der Hut sein. Doch in der Horde, in Ureban na Xertes, war das ein alltägliches Treiben. Zum Teil führt sie nun sogar magische Experimente an Goblins durch oder testet ihre neu entwickelten Tinkturen und Lösungen an ihnen. Es liefen so viele davon herum, dass sie sehr verschwenderisch eingesetzt werden konnten- zumindest solange sie nicht in Ritualen oder an der Front gebraucht wurden.
Ihre Forschungsergebnisse teilte sie regelmäßig den Blut- und Knochenpriestern des, auf der Schädelinsel vorherrschenden, Sataki-Kults mit. Elixiere oder Salben, die das Leben von Opfergaben, meist niedere Lebensformen der Horde oder Tiere, bei einem Ritual ein wenig hinauszögerten und somit das Leiden verlängern, waren gern gesehen und werden häufig benutzt. Man sagt, je länger das Opfer leideten, sodass das Blut vor Aufregung fast zu kochen beginnt, desto effektiver ist es.
Durch ihre zuverlässige und regelmäßige Arbeit mit den Tempeln war die Familie einem Knochenpriester aufgefallen. Der Mann, der exotische Güter beschaffen konnte; die Frau, die den Tempel und die Rituale mit ihren Experimenten, sowie Wissen unterstützte; das Kind, der kleine Sakul, über den das Viertel, in dem die Familie lebte, hinter vorgehaltener Hand redete. Sie konnten sich als eine willkommene Verstärkung für den Sataki-Kult und seine Priesterschaft herausstellen. Der besagte Knochenpriester trug seinen untergebenen Blutpriestern auf, die Familie in den Tempel zu bestellen. Diese folgten der Aufforderung schnell, um nicht den Zorn Satakis auf sich zu ziehen. Sunako wurde in den Stand einer Blutpriesterin erhoben. Sunako lernte nun die Rituale selbst durchzuführen, die sie zuvor so zuverlässig unterstützt hatte. Wie es die Tradition des Kultes will, muss jeder der Priester ein besonderes Amulett um den Hals tragen. Es bestand aus einem roten Stein und gibt dem Träger Kräfte, die nötig sind, um die Rituale durchzuführen.
Durch den neuen Stand war es der Familie wichtig, in der Nähe der Tempelanlage zu leben. Nachdem sie ein angemessenes Haus in Laufreichweite gefunden hatten, bezogen sie es. Das neue Heim war wesentlich hochwertiger als das Alte und die drei lebten sich schnell im Viertel ein.
Zu dem Tempel gehörte eine Bibliothek, die ausschließlich Dämonen und Priester betreten durften. Durch den Rang des Blutpriesters war es Sunako nun möglich, diesen Hort des Wissens zu besuchen. Dort studierte sie weiter die verschiedenen Rituale des Kults. Außerdem versuchte sie, Informationen über das Buch zu sammeln, was niemand bis auf ihren Jungen zu öffnen verstand und das schon so viele Fragen aufgeworfen hatte.
Sakul war mittlerweile zehn Jahre alt. Er wuchs in der Horde auf und die Rituale, Experimente und Opfer gehörten für ihn zum Alltag dazu. Außerdem lernte er die Sprache, Traditionen und Gepflogenheiten der Horde, sofern man diese so nennen kann und möchte. Das rätselhafte Buch seines Vaters gehörte mittlerweile zu ihm wie eine zweite Haut. Er legte es nur zum Schlafen zur Seite und selbst dann lag es direkt neben seinem Bett. Immer wieder blättere er durch die Seiten des rätselhaften Buches und versuchte aus ihm schlau zu werden. Es war ungleich allen anderen Büchern, die er oder seine Eltern gesehen hatten.
Das Buch schütze seine Informationen sehr gut vor denen, die es als unwürdig betrachtete. Die Schrift und Abbildungen bewegten sich oder verschwammen, wenn außer Sakul noch jemand in das Buch schaute. Wenn er allein durch die Seiten blättert, offenbart sich eine fremde Sprache, die er nicht entziffern konnte. Er spürte, dass ihn etwas mit diesem Artefakt verband. Ein unsichtbares Band, welches ihn immer wieder zu dem Buch zog und dafür sorgte, dass er es öffnen konnte.
Er hat von seinen Eltern eine Umhängetasche aus Leder geschenkt bekommen, um das Buch zu transportieren. Diese war äußerst hilfreich, als er sich nach einigen Monaten die seine Mutter nun Priesterin war, dazu entschloss sich ihr anzuschließen. Er wollte nicht in die Fußstapfen seines Vaters treten und Handel betreiben. Er wollte lernen, Magie einzusetzen, das Buch zu nutzen und an den Ritualen teilzunehmen. Seine Eltern diskutierten darüber, aber entschlossen sich schließlich, seiner Wissbegierigkeit statt zu geben. So ergab es sich, dass seine Mutter ihn mit in den Tempel nahm und Sakul immer in der ersten Zuschauerreihe stand, als die abendlichen Rituale ausgeführt wurden.
Die Knochenpriester, die auf der Schädelinsel waren und nicht das Heer unterstützten, schauten erst etwas skeptisch auf das Kind. Schnell erkannten sie jedoch das Potenzial des Jungen. Nachdem der Schädelpriester ein Ritual durchführte, in dem Sakul wieder ganz vorn mit seiner Mutter stand, befahl er einem Knochenpriester den Jungen in die Reihen der Priester aufzunehmen. Er spürte, dass der Junge der Horde noch wichtig werden könnte. Man solle ihn so schnell wie möglich rekrutieren, damit er Sataki näher kommt.
Und so geschah es – Sunako wurde darüber in Kenntnis gesetzt, dass der Schädelpriester persönlich den Befehl erteilt hat, woraufhin sie keine Zeit verschwendete und dies mit Kuro besprach. Zum nächstmöglichen Zeitpunkt wurde Sakul Sierhall feierlich in den Kreis der Blutpriester aufgenommen. Als ihm das Amulett um den Hals gelegt wurde, blitzte das Buch in seiner Tasche erneut rot auf und verdrängte die Dunkelheit der Nacht mit einem schaurigen Schein.
Etwas abseits des Rituals, in einer Ecke des Tempels stand der Schädelpriester, ungesehen von der Menge an Blutpriestern und Schergen. Ein breites Grinsen formte sich unter seiner Maske und er nickte sich selbst zu, bevor er sich umdrehte, um sein weiteres Vorgehen vorzubereiten.
DER JUNGE BLUTPRIESTER
Lukas Dittrich
Dezember 2023