Das Märchen von den drei Waisenkindern

Es waren einmal drei Waisenkinder, drei wunderschöne Mädchen. Die lebten, nachdem ihre Eltern bei einem Bergrutsch ihren Hof und ihr Leben verloren hatten, auf dem Bauernhof ihres Onkels und mussten dort hart arbeiten. Sie wurden vom Gutsherren, von seiner Frau, aber auch vom Gesinde und den Knechten auf dem Felde schlecht behandelt und hatten die einfachsten und schwersten Arbeiten zu übernehmen, die kein anderer tun wollte. Die eine musste im Haus jeden Tag putzen, das Geschirr spülen und die Latrinen reinigen. Die zweite war im Stall für den Schweinekoben zuständig und wurde ständig von den Tieren gebissen. Die dritte musste auf dem Feld von morgens bis abends die einfachsten Arbeiten durchführen, Steine auflesen und Unkraut jäten.
Das Leben der drei Mädchen war harter Fron, und nur wenn sie am Abend erschöpft auf ihre einfachen Lager im Stall sanken, konnten sie kurz miteinander reden und ihr Leben beweinen.

Eines Tages fasste die Älteste der drei den Mut, heimlich den Priester im Ort anzusprechen und ihm ihr Leid zu klagen. »Unser Leben ist Mühsal, unsere Körper schmerzen, wir werden geschlagen und das Sein ist ungerecht.«
Er gab ihr einen Rat.
»Der Schlüssel zu einem guten Leben ist Gehorsam. Nehmt das Leben an und auf Euch, befolgt alle Befehle und Anweisungen und trachtet danach, alle Aufgaben besser als von Euch erwartet zu erledigen. Sagt immer Ja, lächelt und tut was Euch geheißen ist. Der Lohn wird nicht auf sich warten lassen.«
Die älteste der Schwestern tat wie ihr geraten ward. Sie arbeitete härter als alle anderen Bediensteten, las ihrem Vormund und seiner Frau jeden Wunsch von den Lippen ab und lächelte dabei den ganzen Tag.
Es kam eine Zeit, da ihrem Vormund das unterwürfige und gehorsame Verhalten seiner Nichte tatsächlich auffiel. Sie wurde in schöne Gewänder gekleidet und mit duftenden Ölen durfte sie sich einreiben. Und bald nahm er sie, wenn seine Frau nicht im Hause war, mit in sein Schlafgemach. Erst selten, dann immer häufiger, und sie tat, was von ihr erwartet wurde, und sie lächelte dabei. Des Abends weinte sie aber mit ihren Schwestern, wenn sie auf ihr hartes Lager fielen.
Dann sagte sie zu den beiden: »Tut nicht, was ich getan habe. Das Leben ist eine Qual.«
Ihren Körper fand man zerschmettert am Fuße des Berges von dessen höchster Klippe sie sich gestürzt hatte.

Nach vielen Wochen fasste die nun älteste Schwester den Mut, heimlich die älteste Bauernwitwe im Ort anzusprechen, um ihr ihr Leid zu Klagen. »Unser Leben ist Mühsal, unsere Körper schmerzen, wir werden geschlagen und das Sein ist ungerecht.«
Sie gab ihr einen Rat.
»Der Schlüssel zu einem guten Leben ist ein eigener Hof. Such Dir einen Bauern, mach ihn dir zum Mann. Dann wirst Du die Herrin über Hof und Gesinde sein. Der Lohn wird nicht auf sich warten lassen.«
Im Dorf gab es einen Bauern, der hatte ein Triefauge, eine Hasenscharte und humpelte. Sein Hof war klein, seine Frau vor Jahren verstorben und sie hatten keine Kinder. Er hatte nur einen Knecht, der schweigsam seinen Aufgaben nachkam. Im Wirtshaus saß er meist alleine an einem Tisch, und die anderen Bauern hielten Abstand. Er trank nicht viel, nahm nicht an den Raufereien teil und hielt keine großen Reden wie die anderen.
Die Schwester sorgte dafür, dass sie ihm auffiel, und an Markttagen schlich sie um seinen kleinen Stand und sie versuchte, ihm zu helfen. Da sonst kein Mädchen aus dem Dorf auch nur einen Blick auf ihn warf, nahm der Bauer die Aufmerksamkeit des Waisenkindes wahr, und schon bald fragte er bei ihrem Vormund, ob er um ihre Hand anhalten dürfe. Der gab seine Zustimmung, und sie zog in das Haus des Bauern.
Nur selten noch sahen sich die beiden Schwestern, und mit jedem Mal hatte die frischgebackene Bauersfrau mehr blaue Flecke und blutige Striemen auf ihrer Haut. Sie trug nur noch langärmelige Blusen, und sie wurde immer hagerer und krummer. Sie weinten Abends zusammen, bevor die ältere Schwester zurück in ihr neues Heim ging.
Eines Abends mühte sie sich mit gebrochenem Bein zum Verschlag ihrer kleinen Schwester und sagte: »Tu nicht, was ich getan habe. Das Leben ist eine Qual.«
Wenige Tage später trauerte das Dorf um die junge Bauersfrau. Es hieß, sie sei beim Steigen auf den Heuboden von der Leiter gestürzt und dabei verstorben. Doch die Trauerzeit war nur kurz.
Die letzte der Schwestern aber weinte sich jeden Abend in den Schlaf.

Nach einigen Monden fasste sie den Mut, den Einsiedler im Wald, den alle mieden, vor dem aber auch alle ein wenig Angst hatten, anzusprechen. Näherte er sich dem Dorf, dann wurde er mit Steinen beworfen, die Kinder schrieen Schimpfworte und die Erwachsenen drohten ihm mit Ihren Waffen und Mistgabeln. Sie sagte: »Mein Leben ist Mühsal, mein Körper schmerzt, ich werde geschlagen und das Sein ist ungerecht.«
Der dunkelhaarige Mann mit seinem dichten Bart blickte sie aus einen eisgrauen Augen lange an. Dann gab er ihr seinen Rat.
»Der Schlüssel zu einem guten Leben ist deine Freiheit. Lass alles hinter Dir, traue niemandem außer dir selbst. Lerne dich zu ernähren, zu behausen, zu verteidigen. Lerne die Verbündeten im Dunkeln kennen. Niemand hat das Recht, über dich zu bestimmen. Der Lohn wird nicht auf sich warten lassen.«
So verlies sie den Hof, auf dem sie so viel Pein ertragen hatte, und zog in den Wald. Der Einsiedler verweigerte ihr, zu ihm in seine Hütte zu ziehen, und so musste sie sich einen einfachen Unterstand erschaffen, Beeren und Wurzeln sammeln, wichtige Dinge im Dorf des Nachts stehlen, um dann Tiere zu jagen. Es war eine schwere Zeit, so fast alleine im Wald, aber es gab keinen Weg zurück.
Einmal in der Woche lehrte sie der Einsiedler das Bogenschießen, den Umgang mit dem Messer, um auf der Jagd erfolgreicher zu sein. Das Entzünden von Feuer, und wie man eine winterfeste Behausung baute und überlebte. Er gab ihr Einblick in das Wesen der unsichtbaren Dinge, und die dunklen Gestalten, die im Wald lebten.
Und er lehrte Sie, was ihren Schwestern widerfahren war.

Es vergingen Jahr und Tag. Dann fand man den Bauern, auf dessen Hof die Waisen vor langer Zeit untergekommen waren, mit einem Pfeil in seinem Auge auf einem abgelegensten Feld.
Einige Wochen später lag der Priester in seiner kleinen Kappelle, den Kopf zerschmettert von einem Stein.
Nachdem sich die Aufregung im Dorf gelegt hatte verstarb die älteste Witwe des Dorfes. Anscheinend an Altersschwäche, doch war ihr Gesicht schreckensverzerrt und ihre Hände schienen sich noch gegen einen Angreifer gewehrt zu haben.
Und dann fand man am Fuße der Treppe zum Heuboden den Witwer der mittleren Schwester. Jeder Knochen in seinem Körper war gebrochen, und er musste lange dort gelegen haben. Schuld an seinem Tod hatte wohl sein Knecht. Denn der hatte sich selbst gerichtet, er hing an einem Tau mit einer Schlinge um seinem Hals in seinem Gemach.

Angst und Schrecken machten sich im Dorf breit, und ohne Priester im Ort fürchteten sich alle sehr vor der Dunkelheit, in der der Tod jetzt so häufig Einzug gehalten hatte. Sie beteten wie nie um Rettung, um Hilfe, um Schutz gegen die dunklen Tode.

Als das Mädchen beim nächsten mal den Einsiedler traf, sprach sie: »Dein Rat war gut. Mögen alle tun, was ich getan habe. Das Leben ist ein Fest.«
Der Einsiedler nickte, als er seinen Dolch in ihr Herz trieb. »Du hast recht, doch Du hast meinen Rat nicht befolgt. Traue niemandem außer Dir selbst.«
Dann machte er sich auf den Weg ins Dorf, um den Bewohnern anzubieten, sie vor dem Schrecken der Nacht zu behüten. Diesmal würden sie ihn nicht abweisen.

DAS MÄRCHEN VON DEN DREI WAISENKINDERN
Michael Scheuch
Burg Wilenstein, April 2017

 

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