Der Schmerz ist unbeschreiblich. Ich weiß schon, die Seite schützen. Das Kettenhemd klafft dort auseinander, war ja auch nur Kampfbeute. Kurzschwert, Dolch? Was denke ich hier? Ich bekomme keine Luft mehr. Blut im Mund. Röcheln. So geht es also vorbei. Ich stürze in den kalten Matsch. Keine Luft. Es war der letzte Beutezug. Scheiße. Inari. Unser Kind. Es tut so weh. Schwärze vor den Augen. Keine Luft. Matsch. Schmerz. Schrei. Röcheln. Mund voll Blut. Luft! Luft! Es ist …
»Aufstehen«
Ich spüre nichts. Meine Beine und Arme machen es ganz alleine, ich stehe auf. Mein Körper erhebt sich. Ich sehe auch kaum etwas. Alles ist wie die Welt ohne Farben. Ich kann meine Augen auch nicht bewegen, nicht nach links oder rechts schauen. Ich merke, wie mein Körper auf der linken Seite Schlagseite hat. Mein linker Arm kann beim Aufstehen kaum helfen, er hängt herab. Verdammt. Kann ich den Kopf wenigstens drehen? Ein bisschen.
Ich bin auf dem Schlachtfeld, doch die Schlacht ist weitergezogen. Vor mir, neben mir erheben sich Körper, Körper wie meiner. Soldaten wie ich. Tote Soldaten wie ich.
Die Erkenntnis durchzuckt mich wie ein Schlag. Meine Axt liegt auf dem Boden. Neben dieser wirklich großen Blutlache. Mein Blut.
Es ist nicht rot, sondern schmutzig grau. Wie diese ganze Welt.
»Greif die Waffe«
Mein Körper gehorcht, bückt sich. Einige andere rund um mich herum kommen dabei ins Straucheln, stürzen. Da waren auch ein paar, die immer noch versuchen, sich aufzurichten. Sie haben aber keine Beine mehr, oder zerschmetterte Knie. Die mit den Brüchen stehen wackelig, fallen hin, wenn Sie sich nach einer Waffe bücken. Mein Körper greift nach der Axt. Meiner Axt.
»Geh«
Ich weiß nicht, woher mein Körper weiß, in welche Richtung, aber er setzt einen Fuß vor den anderen. Meine Gefährten ebenso. Sie sehen schlimm aus. Ich sehe sicher auch schlimm aus.
Bauchwunden, halbe Köpfe fehlen, von Gliedmaßen ganz zu schweigen. Die ohne Beine bleiben zurück und versuchen sich mit Armen und Händen in die vorgegebene Richtung zu schleppen. Gut, dass mich das Schwert, der Dolch nur in die Seite und in die Lunge getroffen hat. Meine Lungen brauchen keine Luft mehr. Ich atme nicht.
Das merke ich gerade eben erst. Wenn man etwas sein Leben lang gemacht hat, wann merkt man, dass es weg ist? Sicher blinzle ich auch nicht. Kann trotzdem sehen. Tut auch nicht weh. Wenn ich mich anstrenge, dann bringe ich meinen Körper dazu, den Kopf zu drehen, damit ich etwas mehr sehen kann. Das habe ich den ganzen Tag gesehen: Ein Schlachtfeld, unser Heer und die anderen, die Feinde. Und wir verlieren.
Zusammen mit den anderen erreicht mein Körper die Kampflinie. Hier liegen viele tote Körper, die einfach liegen bleiben dürfen. Ungerecht.
»Kämpf«
Ich werde nicht gebraucht. Anscheinend. Mein Körper schwenkt die Axt, von links nach rechts, oben nach unten, mit sehr viel Wucht. Ich gehe auf einen fremden Krieger zu, er hat ein kurzes Schwert (einen Dolch?). Mein Körper interessiert sich nicht dafür, was der andere mit seinem Schwert macht, er erwischt ihn mit seiner Klinge. Am Arm, an der Seite. Mein Körper geht unbeeindruckt weiter und schwingt weiter die Axt. Ich fühle keinen Schmerz.
Es ist schlimm zuzusehen, was mein Körper macht. Die ganzen Übungen, die Erfahrung im Axtkampf, alles hier bei mir. Nicht bei ihm. Er schwenkt einfach brutal die Axt, und als diese das Schwert trifft, zerspringt die Klinge. Ja, ich war stark. Damals.
Der Schrecken im Gesicht des anderen. Sein Entsetzen, als er die Natur meines Körpers erkennt. Er dreht sich um, will fliehen, da steckt die Axt schon in seiner Schulter. Mein Körper zieht sie heraus. Der andere stolpert und fällt. Im Fallen spaltet mein Körper seinen Kopf, Blut und Gehirn spitzen auf meinen Körper und den Boden. So sieht das also aus, wenn man einfach nur zuschauen kann.
Der nächste Gegner, auch der blickt entsetzt. Mein Körper hat schon eine Menge abbekommen, aber die Axt schwingt weiter. Der Neue achtet mehr auf seine Deckung, sticht zu, zieht sich schnell zurück. Mein Körper ist da zu langsam, um schnell nachzusetzen. Geht aber trotzdem weiter. Ich schaue nur zu.
Der Gegner trifft meinen linken Arm, zerschmettert die Knochen im Unterarmt. Ich spüre nichts.
Sein Triumph ist von kurzer Dauer, zu weit hat er sich in die Reichweite meines Körpers gewagt, zack, die Axt in den Bauch. Tief in den Bauch. Er strauchelt, geht zu Boden. Ich möchte das nicht sehen.
Mein Körper zerhackt den Feind. Nicht mehr als nötig, aber lange genug. Aber mir ist nicht schlecht.
Das war bei früheren Kämpfen anders, wenn ich kurz zur Besinnung kam, aber auch damals war ich im Rausch, und es hieß immer »Ich oder Er«, und natürlich war ich immer dafür, dass ich überlebte. Aber wie ist das jetzt? Was heißt hier überleben?
Ich darf so etwas denken, denn mein Körper schwankt allein weiter übers Schlachtfeld, von Feind zu Feind. Um mich herum meine Kameraden, die mein Schicksal teilen. Der Feind sieht immer mehr von uns, seine früheren Erfolge wenden sich gegen ihn. Wortwörtlich.
Wie lange es dauert? Ich weiß es nicht. Kein Schmerz, keine Müdigkeit, keine Zeit. Bis mir der eine seinen Streithammer in den Rücken jagt. Mein Körper geht zu Boden. Mein Gesicht im Schlamm. Ich muss nicht atmen. Aber mein Körper bleibt liegen. Und es wird schwarz. Endlich.
»Aufstehen«
Was?
Ich versuche zu schreien, aber mein Körper macht nicht mit. Ich sehe kaum noch was, ich höre nichts. Mein Körper berappelt sich, kommt auf die Beine, aber der Oberkörper, Arme und Kopf, hängen nach vorne. So schaue ich vor allem zu Boden, sehe nur wenig vor mir. Andere Beine, andere hängende Arme mit den Waffen in Händen. Ich erinnere mich. Habe ich kein Rückgrat mehr?
Mein Körper hält das Gleichgewicht, ich weiß nicht wie.
»Vorwärts, Marsch«
Mühsam setzt mein Körper ein Bein vors andere, und wieder scheint er zu wissen, wohin. Es ist wohl Abend geworden, jedenfalls ist es schon sehr dunkel, abgesehen davon, dass ich ja eh nur nach unten sehe. Es hat wieder angefangen zu regnen, Tropfen fallen in die Pfützen. Aus Wasser und Blut. Alles Grau. Nicht mal Braun. Hat mein Körper noch die Axt? Bin ich noch ein Krieger?
Keine Zeit, es wird dunkel, anscheinend gibt es aber Mondlicht. Weiter, immer weiter. Tratsch, Platsch, kein Gefühl für den Boden.
»Stopp. Warten.«
Mein Körper hält Inne, soweit das geht, es ist eine wackelige Angelegenheit. Meine toten Kameraden und ich … Das klingt furchtbar.
Wir stehen in der Nacht. Der Regen läuft an uns herab. Keine Schmerzen. Das halb nach unten schauen hat einen Vorteil: Kein Wasser fließt in die Augen. Dafür bekomme ich nur am Rande einen Blick auf meine Umgebung. Die Umgebung meines Körpers. Da vorne ein Gebäude. Es kommt mir bekannt vor. Ziemlich groß. Menschen gehen rein und raus. Menschen, die ganz normal gehen, nicht schlurfen, kein Bein hinter sich herziehen. Keinen zerschmetterten Rücken haben.
Soldaten, unsere, wie mir scheint. Oh, bei allem, was ich jemals angebetet habe: mein Körper ist jetzt einer von ihnen. Ich bin einer von ihnen. Von denen, die wir kaum gesehen haben. Als ich noch in die Gaststube gegangen bin, zur Latrine, zu den Unterkünften, zum Appell. Ich habe sie gesehen, meine Kameraden haben sie gesehen. Die Untoten, die auf dem Feld stehen und darauf warten, am nächsten Tag mit uns in die Schlacht zu ziehen. Manchmal fiel einer um, dann haben wir gelacht. Wenn wir es gemerkt haben. Eigentlich haben wir sie nicht angesehen.
Jetzt ist mein Körper … Jetzt bin ich einer. Von denen. Die nicht feiern, trinken, huren, prügeln, schreien, singen, den ganzen langen Tag aus Blut, Fleisch und Tod hinter sich lassen, vergessen wollen, einfach: leben wollen. Ich würde auch gerne leben wollen.
Mein Körper weint nicht, ich weine nicht. Ich schreie nicht. Ich rufe sie nicht zu mir, meine lebendigen Kameraden, krumm und schief steht mein Körper in ihrer Sichtweite, die Axt in der Hand. Ist das nicht eine Frau da? Mit einem dicken Bauch? Ist das … Inari? Die von dem riesigen Kerl begrapscht wird? Ich kann es nicht sehen, aber ich fühle es.
Mein Körper kann nicht mehr das Gleichgewicht halten, ohne ein Kreuz, das balanciert. Er stürzt auf den Ackerboden. Ein Segen? Es wird dunkel. Habe ich es geschafft? Liegt das hinter mir? Ich will doch einfach nur tot sein.
»Aufstehen«
Aufstehen
Michael Scheuch
Seeheim, März 2024